Beitrag von Määphisto vom Filmfenster Podcast
Frankreich• 23. September 2022 • 97 Minuten
Stunden nach dem tragischen Tod ihres jüngsten Bruders unter ungeklärten Umständen wird das Leben von drei Geschwistern ins Chaos gestürzt.
Quelle: IMDb
- Dali Benssalah
- Sami Slimane
- Anthony Bajon Anthony Bajon
- Ouassini Embarek
- Alexis Manenti
- Birane Ba
- Iless Hachi Iless Hachi
- Younès Benbakki
- Meriam Sbia
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- Abdel
- Karim
- Jérôme
- Moktar
- Sébastien
- Le négociateur
- Rachid
- Ouss
- Amina
- Regie
Romain Gavras - Drehbuch
Elias Belkeddar
Romain Gavras
Ladj Ly - Studios
Iconoclast
Lylyfilms
- Musik
Gener8ion - Vertrieb
Netflix
Vorwort
Filme sind oft ein Spiegelbild der Gesellschaft. Sie sollen uns auch Lebensrealitäten vor Augen führen, die für viele von uns weit entfernt scheinen. Sie bedeuten jedoch für eine grosse Anzahl Betroffene Lebensrealität. Diese Milieufilme sollen manchmal zum Denken anregen, wachrütteln oder einfach unterhalten. Wie geht man als Filmemacher*in und Drehbuchautor*in mit solchen Themen um? Die Gratwanderung ist dabei entscheidend. In der modernen Filmgeschichte sind solche Produktionen immer wieder in Erscheinung getreten. Waren es die erschreckenden Bilder in City of God (2002 BRZ, USA, FR) aus den Favelas von Rio de Janeiro, wo Kinder und Jugendliche von Geburt, fernab der touristischen Strände der Copa Cabana, in einer Gewaltspirale aufwachsen. Oder wenn in Gomorrha (IT 2008) die Machenschaften der Mafia tief ins alltägliche Leben der italienischen Bevölkerung spürbar werden. Wenn die Kamera in Menace II Society im Brennpunkt des Geschehens afroamerikanischer Armenviertel schonungslos draufhält, erkennen wir, wie privilegiert wir wirklich sind. In der Reihe solcher Produktionen hat auch das französische Kino eine grosse Filmhistorie. Immer wieder haben sich Filmemacher*innen die verfehlte Migrationspolitik Frankreichs zum Thema ihrer Drehbücher und Produktionen gemacht. Sinnbildich steht hier La Haine (der Hass) von 1993 wie ein Monument des französischen Milieufilms im Mittelpunkt. Mathieu Kasovitzs Klassiker zeigt das Leben in Pariser Banlieues und hält den tristen Alltag in Schwarz Weiss fest. In dieser Tradition folgten viele weitere Produktionen, die einmal mehr, einmal weniger das Leben abseits von französischer Romantik einfangen. Wer sich etwas mit der aktuellen Situation in französischen Grossstädten auseinandersetzt, weiss, auch fast 30 Jahre nach La Haine ist das Leben in französischen Banglieues und weiteren Arrondissement, für viele ein täglicher Kampf um Anerkennung, Rechte und Gleichstellung in einer tief gespaltenen französischen Gesellschaft ist. Romain Gavras Regisseur und Autor will sich nun mit seinem neuen Spielfilm Athena von einer neuen Seite der Thematik annähern. Gelingt hier eine neue Form des Milieufilms?
Inhalt
Der dreizehnjährige Idir kommt bei einem Polizeieinsatz ums Leben. Sein älterer Bruder Abdel ist aufgrund des tragischen Todes aus dem Kriegseinsatz vorzeitig zurückgekehrt und findet seine Familie völlig zerrissen vor. Noch vor wenigen Wochen hat er für seine Heimat das Leben an der Front riskiert und steht jetzt vor einem Scherbenhaufen. Bei seiner Rückkehr in die Banlieue muss er feststellen, dass sein jüngerer Bruder Karim von Hass und Rachegefühlen zerfressen und sein älterer Bruder Moktar tief in die Kriminalität abgerutscht ist. Die beiden Brüder machen die Polizisten für den Tod ihres jüngsten Familienmitgliedes verantwortlich und zetteln einen Aufstand in ihrer Gemeinde an. Mit einem Überfall auf eine ortsansässige Polizeistation gerät alles ausser Kontrolle. Ihr Bezirk Athena wird zur Festung. Die Polizei versucht diese mit aller Gewalt einzunehmen, was unweigerlich zum Zusammenstoss an allen Fronten führt. Hier scheint sich ein tragisches Ende anzubahnen.
Kritik
Romain Gavras inszeniert hier mit seinem Kameramann Matias Boucard eine unglaublich intensive Achterbahnfahrt. Als Zuschauer*in kann man kaum Luft holen, während bereits die nächste Bildwelle entfesselt wird. Durch inszenatorische Kniffe gelingt hier eine Bildsprache, die so manchen Actionblockbuster mit dreistelligem Millionenbudget hinter sich lässt. Ein augenscheinliches Merkmal sind die hervorragenden One Shot Aufnahmen, die alle wichtigen Hauptakteure durch die Szenerien begleiten. Immer wieder fängt dabei die Kamera das Geschehen hautnah ein. Gewaltexzesse werden schonungslos in Szene gesetzt und doch wirkt der Film nie voyeuristisch. Als Zuschauer*in leidet man trotz des rasanten Pacings mit den Charakteren mit und findet erstaunlich schnell einen Zugang ohne viele Hintergrundinformationen. Die Motivationen der Hauptprotagonisten sind glaubhaft inszeniert. Immer wieder werden kurze Szenen fernab der tosenden Hektik gezeigt. Sei es, wenn Karim inmitten des Belagerungszustandes beim Betrachten eines Fotos des verstorbenen Bruders unaufhörlich zu weinen beginnt. Oder wenn Abdel die Familien aus den gefährdeten Häusern versucht zu evakuieren und doch die Zeit für Trauer bei einem Gebet findet. Dieser Spagat gelingt Romain Gavras trotz einer kurzen Spiellänge von rund 90 min erstaunlich gut. Trotz fiktionaler Darstellung sind Parallelen zur Realität unverkennbar. Stellenweise hätte der Achterbahnfahrt eine Temporeduktion gutgetan. Inhaltlich gibt es sonst wenig zu kritisieren.
Dali Benssalha spielt die Rolle Abdels überzeugend. Neben ihm kann auch Sami Slimane als Karim seine Stärken ausspielen. Lobenswert sind auch die unzähligen Nebenrollen, die immer wieder Teil der rasanten Geschichte sind. Quassini Embarek als Moktar fällt in dieser Konstellation etwas ab. Seine Rolle verkommt teilweise zu einem Abziehbild eines Millieugangsters, wie er in unzähligen Produktionen klischeehaft inszeniert wurde.
Tatsächlich kann Romain Gavras diesem Genre einen eigenen Stempel aufdrücken. Athena gehört zu den Überraschungen aus dem Jahr 2022.